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1000 Notenseiten, 200 Musikstücke, Durchschnittslänge 20 Sekunden:
Meine neuen Ö1 Signations & ein Hoch auf Werner Pirchner

von Christian Muthspiel, Die Presse, Spectrum, Oktober 2017

„Manch Kritikus ne taube Nuss, als Arsch geboren mit ohne Ohren“ tröstete mich Werner Preisegott Pirchner vor 24 Jahren per Postkarte samt herrlicher Zeichnung eines Allerwertesten, eben „mit ohne“, also mit durchgestrichenen Ohren, für die fürchterlichen Verrisse meiner ersten Kammeroper, uraufgeführt beim Österreichischen Theatertreffen 1993 am Tiroler Landestheater in Innsbruck. Es war ein einzelner Kritiker, der, darmstädtisch-dogmatisch verengt, seinen Adorno stolz als Brett vor dem Kopf tragend, ein und dieselbe Rezension an jeweils zwei österreichische und deutsche Zeitungen geliefert hatte, „vier auf einen Streich“, einmal schreiben, viermal kassieren, und schon war ich öffentlich geprügelt und mein musiktheatralischer Jungfernflug medial ein formidabler Rohrkrepierer.

Werner Pirchner war im Publikum gewesen, hatte zugehört, gut und genau zugehört, neugierig wie immer und mit gastfreundlicher Haltung einem Werk, einer Uraufführung gegenüber. Mit der Bereitschaft, diesen Gast erst einzulassen ins Haus, ihn kennenzulernen, mit ihm ins Gespräch zu kommen, seine Geschichte und Geschichten zu erfahren, anstatt ihm die Türe bereits beim ersten Anblick vor der Nase zuzuknallen. Das war Pirchners Grundhaltung den Künsten, den Menschen, dem Leben gegenüber. Auch zur ersten Langspielplatte, die mein Bruder Wolfgang und ich im Duo im Jahre 1985 aufgenommen hatten, gratulierte er uns mit einer Postkarte, auf der bloß geschrieben stand: „Leiwaund.“ Ein Ritterschlag für zwei steirische Jazzgreenhorns Anfang zwanzig, eine ungeheure Motivation.

Rund um meine Tiroler Kritikerschelte muss es gewesen sein, dass mein Tröster, Freund und Komponistenkollege den Auftrag erhielt, für den Radiosender Ö1 die Signations und Kennungen und somit das akustische Erscheinungsbild über die täglich 24 Stunden Sendezeit neu zu gestalten. Er tat dies mit der ihm eigenen Meisterschaft, Sorgfalt, Hartnäckigkeit, stilistischen Offenheit und Perfektion. Die in vielen Schrebergärten der sogenannten Musikwelt äußerst verdächtige Fähigkeit, sich in mehreren Genres mit derselben Ernsthaftigkeit, Lust und Hingabe zu bewegen, war (und ist) Grundvoraussetzung für diese multistilistische Aufgabe. John Coltrane zu lieben und Anton Bruckner, Jazz genauso achtungsvoll zu spielen wie für ein Symphonieorchester zu komponieren, sich an Alban Bergs Wozzeck zu erfreuen, aber auch am letzten Album Stings, spiegelt das von Ö1 an mehr als 700.000 täglich einschaltende Ohrenpaare gemachte Angebot, sowie das Selbstverständnis des Senders.

Pirchners Miniaturen – wunderbare Klang-Haikus, symphonische Kleinode, kammermusikalische Kondensate, auf wenige Sekunden komprimierte Humoresken – sind nicht nur gewichtiger Teil des akustischen Alltags vieler geworden, sie haben sich darüber hinaus eingegraben in Tagesabläufe, sie takten den (Radio)tag vieler Menschen, lösen Freude auf Lieblingssendungen aus, rufen zum Mittagsjournal, erzählen vom Leben der Natur, öffnen Spielräume, blättern im Leporello, sprechen Klartext, interpretieren Alte Musik neu oder betreffen Geschichte.

Dass Werner Pirchner mir nach dem Start der neuen Ö1 Signations am 1. Oktober diesmal keine Postkarte mehr schreiben wird, ist traurige Gewissheit, und ich will nicht glauben, dass bereits 16 Jahre seit seinem endgültigen Verstummen verflogen sind, so lebendig ist die Erinnerung an ihn.
Nun gehen sie also auf Sendung, „meine“ neuen Signale von 0 bis 24 Uhr, die Anfangs- und Schlussmusiken, Kurz- und Kürzeststücke zu An- und Abmoderationen, komponierten Trenner zwischen Beiträgen, auch die neue Senderkennung, die Pirchners „Dreiton“ ablöst, selbst der neue Gong, der den elektronischen Stundenschlag aus dem Jahre Schnee ersetzt und jetzt ein wirklicher Gong ist, ein „echtes“ Musikinstrument, reich an Obertönen, auf demselben Grundton wie die neue Kennung.

Der von Ö1 in Person des Programmchefs Peter Klein, einem für das Radiomachen brennenden Zeitgenossen, an mich erteilte Auftrag dürfte in seiner Art weltweit einzigartig sein: In Anbetracht dessen, was üblicherweise an Jingles und Signations Dienst nach Vorschrift tut und billig in mehrfacher Hinsicht sein muss, ist der dezidierte Wunsch eines Radiosenders nach einem einheitlichen, sämtliche Sendungen umfassenden Klangbild aus komplexen, sich Zeit nehmenden, komponierten – und nicht gebastelten – Stücken, davon ein Gutteil in Orchesterbesetzung (die auch zur Verfügung gestellt werden muss!), ein geradezu anachronistisches Bekenntnis zu Qualität, Vertiefung, Achtsamkeit.

Im Normalfall erteilt ein Orchester, Konzertveranstalter oder Festival einen Kompositionsauftrag, dessen künstlerische Parameter lediglich bezüglich Besetzung – welche und wie viele Instrumente und Stimmen – sowie Dauer des Werkes festgelegt sind, und die Monate des einsamen Komponierens vergehen dann ohne inhaltliche Rücksprache mit dem Auftraggeber. Hier jedoch war ein langer, fruchtbarer Dialog mit Christian Scheib als Redakteur und Peter Klein als Gesamtverantwortlichem auf Augenhöhe vonnöten, ein gemeinsames Herantasten an das Ergebnis, handelt es sich doch um „Gebrauchsmusik“, um Stücke, die – frei von Unterwürfigkeit – in einem ganz bestimmten Kontext funktionieren, einem Zweck dienen müssen, ohne sich zwangsläufig Banalisierung und Marginalisierung auszuliefern.

Ein großes, geradezu sträflich unterschätztes Feld, denn Gebrauchsmusik – die beglückend sein kann, wenn sie nur gut gemacht ist, sich an Qualität und Originalität orientiert – macht etwas mit uns, dringt allerorten auf uns ein, prägt die Güte unserer täglichen akustischen Umgebung und der daraus resultierenden Gemütslage, von Klingeltönen, Wellnessbeschallungen und Durchsagegongs bis zur Höllenqual beschallter Restaurants und Flugzeuge. Gebrauchsmusik ist auch ein Strawinsky-Ballett, ein Filmscore von Morricone oder Beethovens Schauspielmusik zu Goethes Egmont. Musik, die in ihrer ursprünglichen Intention für außermusikalische Zusammenhänge verwendet, für genreübergreifende, multimediale Vorgänge „gebraucht“ wird, im Zusammenspiel mit Texten, Bildern, Choreographien, einer Dramaturgie verpflichtet, welche die jeweiligen Partnerkünste nicht nur wahr- und ernstnimmt, sondern beflügelt.

Wieder einmal wurde mein Komponiertisch für Monate zum Lebensmittelpunkt, diesmal vorerst, um nach einer Reihe fehlgeschlagener Versuche festzustellen, dass es zunächst galt, einige grundlegende Entscheidungen zu treffen, um den neuen Ö1-Klang nicht zur willkürlichen Anhäufung vieler – sehr vieler! – kurzer Stücke ausufern zu lassen, sondern einen homogenen Zyklus miteinander verbundener Miniaturen zu kreieren.

1. Zusammenhang
Die bisherige Senderkennung, der längst schon berühmte Bratschen- Dreitonschritt aus Quint und Quart c-g-c´, wird – Reverenz an Pirchner und freundschaftliche Übernahme des Staffelholzes – zur Bassstimme der neuen Kennung. Deren Thema im Dreivierteltakt ist nun wiederum das musikalische Material aller 200 Kompositionen, das als Haupt-, Neben-, Mittelstimme, als Bass, Spiegelung, Krebs, vollständig oder fragmentiert, fugiert, zu Akkordfolgen aufgeschichtet etc. in jedem der Stücke steckt. Mehr oder weniger offensichtlich gibt diese gemeinsame DNA eine gewisse „Tonalität“ vor, um für Kohärenz und Wiedererkennung zu sorgen.

2. Instrumentarium
Als Werner Pirchner vor knapp 25 Jahren daran ging, seine Ö1 Signations zu erfinden, waren Samples, also elektronisch gespeicherte Klänge – unter anderem von „natürlichen“ Musikinstrumenten – etwas Neues, Aufregendes, Faszinierendes. Ebenso sorgten damals Synthesizer für innovative Klangwelten. In Zeiten inflationärer und nivellierender Allgegenwart von Samples und Computerklängen jedoch führt hier der eingeschlagene Weg „zurück in die Zukunft“: Es erklingen nämlich ausschließlich „echte“ Instrumente und Stimmen, gespielt und gesungen samt Atem-, Bogen-, Griff-und Klappengeräuschen von Koryphäen ihres Fachs, schön, weil ungeschönt, obertonreich, weil aus schwingenden Saiten und Luftsäulen, vielfärbig, weil individuell differierend sowohl was die teils vor Jahrhunderten von Meistern gebauten Instrumente als auch was die zu Klang und Ausdruck gewordenen Leben ihrer Spielerinnen und Spieler angeht.

3. Libretto
Die jeweils über die Signations gesprochenen Sendereihentitel, Untertitel und Namen ergeben das Libretto. Hierfür sind in den Stücken entsprechende „Mulden“ vorgesehen, genau gestoppte Einsätze der Sprache, in welchen die Musik Platz macht, um ein gegenseitiges Bedingen von Wort und Klang zu erreichen. Die Sprecher/innen mussten somit wie Sänger zu den bereits aufgenommenen Kompositionen sprechen, um mit deren Duktus und Timing zu interagieren.

4. Familien
Innerhalb der Großfamilie aller Signations gibt es Kleinfamilien: Die Nachrichtenfamilie, die Wissenschafts-, Musik-, Religions-, Featurefamilie u.s.w., deren nähere Verwandtschaftsbeziehungen hörbar sein sollen. Als Beispiel sei die Bücherfamilie angeführt: Das Bild eines lesenden Menschen, alleine in den Kokon seiner Lektüre eingesponnen, wird zum Klang eines unbegleiteten Soloinstruments: Einer Violine für „Hörbücher“, einer Bassklarinette für „Ex libris“, eines E-Pianos für „Kontext“.

Weitere Fragen betrafen den Grad der Bebilderung (muss eine Religionssendung mit Glockengeläute, eine Computersendung durch elektronisches Piepsen eröffnet werden?), die Tageszeit (wie wirkt ein und dieselbe Musik um 7 Uhr morgens und zu Mitternacht?), sowie die Art und Länge der Sendung (nimmt sie sich eine Stunde lang Zeit für ein Gespräch, handelt es sich um ein kurzes Wissenschaftsmagazin, eine abendfüllende Opernübertragung?).
Am Ende waren es 1000 Notenseiten, die auf den Pulten der Musikerinnen und Musiker des wunderbaren ORF Radio-Symphonieorchesters sowie der vielen Kleinbesetzungen – vom Soloinstrument bis zu Kammerensembles und Jazzbands – lagen, 250 Seiten Partitur am Dirigentenpult und über 1500 aufgenommene Sprachtakes, deren Auswahl aus den 200 Musikstücken – davon 70 in Orchesterbesetzung – mit allen Varianten und Namen 500 nun einsatzbereite Miniaturen werden ließ, von welchen allein die Signation der Journale in den kommenden 20 Jahren über 50.000 Mal erklingen wird.
Wie gerne hätte ich jetzt alle rund 100 beteiligten Personen aufgezählt: Die Damen und Herren an Instrumenten und Stimmen, das Team aus Redaktion, Tontechnikern, Aufnahmeleitung, Notenarchiv, Orchesterbüro, Sendeleitung; alle motiviert, unterstützend, professionell, und sehr oft auch noch lustig dazu. Doch kann ich niemanden herausgreifen, ohne damit zwangsläufig andere zu entwerten. Ö1 nennt sie in einem eigenen „Signations-Link“ auf seiner Homepage beim Namen, und ich bitte darum, sie mit einem Blick darauf der Anonymität zu entreißen. Außerdem entschuldige ich mich bei Ihnen, liebe Hörerin, verehrter Hörer, präventiv dafür, dass ich unter Umständen Ihr liebstes akustisches Möbelstück über Nacht verschleppt habe und durch ein neues ersetze. Möge die Übung gelungen sein.

Alle Mitwirkenden

Orchesteraufnahmen

ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Maighréad McCrann: Konzertmeisterin
Christian Muthspiel: Dirigent

Kleinbesetzungen

Florian Eggner: Violoncello
Anna Clare Hauf: Stimme
Bertl Mayer: Mundharmonika
Manu Mayr: E-Bass, Kontrabass
Matthieu Michel: Trompete
Christian Muthspiel: Posaune, Klavier, E-Piano, Vocoder
Wolfgang Muthspiel: Gitarren
Ingrid Oberkanins: Percussion
Herbert Pirker: Schlagzeug
Gerald Preinfalk: Klarinetten, Saxophone
Mario Rom: Trompete, Flügelhorn
Benjamin Schmid: Violine
Steve Swallow: Bassgitarre
Franck Tortiller: Vibraphon

Special Guests Ambiente und Diagonal-Signations

Alegre Correa (Brasilien): Stimme
Jatinder Thakur (Indien): Stimme
Dhafer Youssef (Tunesien): Stimme
Sainkho Namtchylak (Sibirien): Stimme

Sprecherinnen und Sprecher

Irina Wanka, Marie-Luise Haugk, Észter Hollósi,
Kristóf Gellén, Christoph Grissemann

Team

Martin Leitner: Tontechnik ORF (Aufnahme Orchester, Sprecher/innen)
Roland Baumann: Tontechnik TSB (Aufnahme Kleinbesetzungen, alle Mixes)
Erich Hofmann: Aufnahmeleitung ORF RSO Wien
Haimo Godler: Chefsprecher, Sprachaufnahmen
Christian Scheib: Redaktion
Christian Muthspiel: Komposition, musikalische Leitung
Peter Klein: Gesamtleitung