„Ich bin mit 17 jungen Leuten auf Entdeckungsreise“
Er ist einer von Österreichs bekanntesten Jazzmusikern: Posaunist, Pianist und Komponist. Außerdem dirigiert er regelmäßig klassische Orchester und schreibt auch Werke für sie. Jetzt hat Christian Muthspiel, geboren 1962 in der Steiermark, eine neue Herausforderung gefunden: eine Big Band – das ORJAZZTRA VIENNA. Roland Spiegel, Jazzredakteur des Bayerischen Rundfunks, sprach mit ihm über das Projekt.
Roland Spiegel: Christian Muthspiel, als wir uns das letzte Mal trafen, sagten Sie mir: „Demnächst werde ich entweder einen Sechstausender besteigen oder eine Big Band gründen.“ Jetzt ist es die Big Band geworden. Ist das einfacher oder schwerer?
Christian Muthspiel: Was mich mit der künstlerischen und auch organisatorischen Leitung dieser Bigband erwartet, kann ich wahrscheinlich eher abschätzen als die Antwort auf die Frage, wie mein Kopf sich anfühlt auf 5500 Metern, und man hat noch 500 Meter vor sich. Aber solch eine Big Band ist natürlich schon eine große Geschichte.
Etwas, wofür man Mut und ziemlich viel Atem braucht?
Ja, ich habe Respekt davor. Aber ich habe eine wahnsinnig positive Energie dazu. Ich merke richtig: Ich muss das machen.
Obwohl solch eine Big Band schon finanziell ein riesiger Berg ist?
Ich kümmere mich mit Hilfe einiger Unterstützer – also Spendern, Institutionen und öffentlichen Förderungen – um die wirtschaftliche Grundausstattung des Orjazztra, die es erlauben soll, faire Gagen an meine Musikerinnen und Musiker zu bezahlen und das Orchester am Leben zu erhalten. Dass bei dem heutigen, katastrophalen Niveau der Jazzgagen ein so großes Ensemble nicht ohne relevante finanzielle Zuwendungen überleben kann, liegt auf der Hand. All jenen, die uns unterstützen, danke ich herzlichst.
„Ich muss das machen“, sagten Sie gerade. Was treibt Sie da so an?
Ich möchte meine kompositorischen Ideen einfach mal mit meiner eigenen großbesetzten Band umsetzen können. Und diese Band ist interessant: Wenn man mich wegzählt, ist das Durchschnittsalter um die 30, wir sind also sehr jung. Diese jungen Musikerinnen und Musiker haben mich sehr inspiriert. Ich habe mir die verschiedensten Bands und Aufnahmen dieser zum überwiegenden Teil sehr jungen Leute angehört, um herauszufinden, was und wie diese Jahrgänge musizieren.
Ich sehe hier auf der Liste, um nur ein paar Namen herauszugreifen: Lisa Hofmaninger, bei den Saxophonen und Klarinetten, Jahrgang 1991. Astrid Wiesinger, Jahrgang 1988, in derselben Instrumentengruppe. Beate Wiesinger, Bass, 1986. Dann sehe ich einen Tubisten: Tobias Ennemoser, 1991 geboren. Und die Schlagzeugerin Judith Schwarz, Jahrgang 1989.
Ich bin auf Entdeckungsreise gegangen, und das waren die Musikerinnen und Musiker, die ich unbedingt dabeihaben wollte. Diese Besetzung ist bewusst keine klassische Big-Band- Besetzung. Erstens habe ich einen sechsköpfigen Holzbläsersatz. Die spielen alle zwei bis drei verschiedene Saxophone und Klarinetten. Wenn sie alle nur ihr Hauptinstrument spielen, besteht der Satz aus Sopransaxophon, zwei Alt- und zwei Tenorsaxophonen sowie einem Bariton. Und dann eben ein etwas kleinerer Blechsatz mit drei Trompeten, zwei Posaunen und einer Tuba. Und dafür die doppelte Rhythmusgruppe mit zwei Schlagzeugen und zwei Bässen. Das ist schon ziemlich speziell besetzt. Denn ich wollte mich auch als Komponist austoben. Hier kann ich zum Beispiel Besetzungen machen mit drei Bassklarinetten und drei Sopransaxophonen. Und die doppelte Rhythmusgruppe bietet natürlich auch sehr viele Möglichkeiten des Konzipierens oder Komponierens.
Ihre Lust am Komponieren war also der zentrale Aspekt bei der Gründung dieses Orchesters?
Bei den verschiedenen Dingen, die ich die letzten Jahre und Jahrzehnte gemacht habe, ist eigentlich der gemeinsame Nenner wahrscheinlich meine Lust daran, Architekt zu sein. Und in der Musik ist es das Komponieren. Ich vermisse im Jazz immer wieder kompositorische Handschriften. Ich würde mir hin und wieder wünschen, dass viele der wunderbaren Spielerinnen und Spieler, die es heutzutage gibt, öfter auch, was das Komponieren betrifft, sich mehr ins Zeug legen würden. Ich habe vor, mit dieser Band eine wirkliche Orchesterkultur zu entwickeln, die auch daran geschult ist, was ich als klassischer Dirigent mache: also wirklich dynamisch spielen, wirklich an den Klangfarben arbeiten, wirklich an der Phrasierung arbeiten. Bei vielen Big Bands habe ich das Gefühl, dass die Dynamik oft nicht mitgedacht wird mit der Komposition. Das ist in der Klassik aber ein Hauptaspekt des Ausdrucks. Und vor allem auch die Balance innerhalb des Orchesters: Wie stehen die einzelnen Gruppen dynamisch zueinander? Da wird ganz fein austariert. Wann kommt was in den Vordergrund? Wie mischen sich verschiedene Instrumentengruppen? Ich freue mich sehr darauf, an solchen Dingen intensiv zu arbeiten.
Hat jemand wie Carla Bley für Sie eine Vorbildfunktion für die Arbeit mit so einer Big Band?
Carla Bley war eine der Musikerinnen, die überhaupt dafür verantwortlich sind, dass ich Jazzmusiker werden wollte. Es waren vier Konzerte, die das in mir beschlossen haben. Das eine war Albert Mangelsdorff solo. Das zweite die Carla Bley Big Band. Das dritte war das Art Ensemble of Chicago. Und nicht zu vergessen ein viertes Konzert: das Duo Harry Pepl /Werner Pirchner. Als ich 17, 18 war, war klar: In diese Welt möchte ich auch. Das waren alles Konzerte, die ich in Graz gehört hatte. Carla Bley war immer für mich sehr wichtig, vor allem in ihrer Eigenschaft als Komponistin. Sie hat innerhalb der Tradition des Jazz ihre eigene Handschrift gefunden. Die Carla Bley Big Band hat immer anders geklungen als alle anderen Big Bands. Wenn man jetzt Vorbilder nennen möchte – oder nennen wir es vielleicht eher Inspirationen -, dann sind es auf jeden Fall Carla Bley, Maria Schneider und natürlich Gil Evans. Und mich haben auch die zehn Jahre im Vienna Art Orchestra stark geprägt. Das Art Orchestra war seit Anbeginn, als ich noch lange nicht mitgespielt hatte, für mich immer eine sehr wichtige Band – auch weil sie so individuell und auch irgendwie europäisch geklungen, aber trotzdem gegroovt hat. Mathias Rüeggs eigene kompositorische Handschrift, dieser eigene Sound, zum Beispiel mit Lauren Newton, die die Lead-Stimme oft gesungen hat anstelle der Trompete: Solche Dinge haben mich immer fasziniert.
Soll das Orjazztra Vienna in gewisser Weise eine Fortsetzung des Vienna Art Orchester werden, das vor zehn Jahren aus finanziellen Gründen leider aufgelöst werden musste?
Es wird zwangsläufig etwas Eigenes, wenn ich die Musik schreibe. Und es ist auch anders besetzt, und ich habe andere Schwerpunkte oder andere Fragestellungen, die sich mir stellen während des Komponierens. Aber die Sehnsucht nach einer großen Besetzung hat mir schon damals Mathias Rüegg eingepflanzt. Die Energie, als wir damals unterwegs waren: Das war schon sehr tolles Gefühl, dass man da in einer Band von zwanzig Leuten unterwegs war. Und auch bei Mathias hatten die Solisten ihre eigenen Räume. Man war nicht austauschbar. Das ist mir sehr wichtig: dass die Musikerinnen und Musiker nicht austauschbar sind, dass sie ihre Freiräume bekommen. Und dass die Stimmen wirklich individuell sind. Ich habe ja schon ziemlich viele klassische Konzerte für Soloinstrument und Orchester geschrieben. Der Sound und die Spielweise des Solisten, für den ich das jeweils geschrieben habe: Ohne das wäre ich verhungert. Benjamin Schmid, Gautier Capucon oder Hakan Hardenberger: Diese Interpreten hatte ich mehr vor Ohren als vor Augen, als ich die Stücke komponiert habe. Und jetzt finde ich es so schön, dass es um 17 Menschen geht.
Musiker, die 1988 oder 1991 geboren sind, haben ja einen völlig anderen musikalischen Background von der Sozialisation her als jemand, der 1962 geboren ist. Wie fließt das ein in die Arbeit an den Stücken?
Ich merke das jetzt schon beim Schreiben: Ich habe großen Spaß an ziemlich komplizierten ungeraden Taktarten, weil die junge Generation inzwischen so selbstverständlich damit umgeht, wie wir das damals überhaupt nicht gemacht haben. Das fordert mich jetzt zum Beispiel schon heraus. Und natürlich auch, was die Rhythmusgruppe betrifft. Einflüsse zum Beispiel von Stilen wie Hip-Hop oder Drum’n’Bass, verschiedene Formen von Techno und so weiter, und das fließt natürlich ein in die Spielweise. Ich habe ja die letzten Jahre immer mit Musikern gespielt, die gleich alt oder älter waren als ich, und jetzt habe ich große Lust drauf, diese andere musikalische Sozialisation in meiner eigenen Band zu hören. Zwei Drittel der Band sind im Alter meiner Tochter!
Sie sind jetzt also ständig damit beschäftigt, neue musikalische Sprachen zu lernen?
In diesem Fall ganz stark. In meinen letzten Jazzprojekten ging es eher darum, mich in vertrauten Sprachen erneut zu bewegen: die Dowland-Projekte, die Yodel-Group, die Duos mit Steve Swallow. Aber jetzt kommt wirklich etwas ganz anderes. Jetzt kann ich auf nichts zurückgreifen. Ich hatte noch nie eine eigene Big Band. Ich habe jetzt nicht 30 Partituren in der Schublade. Sondern ich schreibe wirklich alles neu. Und es ist eine Entdeckungsreise.
So, wie wenn man neue Luft ganz weit oben auf sechstausend Metern atmet, die vielleicht auch manchmal dünner ist als die vertraute?
Ja, das ist ein guter Vergleich. Es reißt mich jetzt ein bisschen hin und her zwischen Euphorie und Respekt. Da spielt auch die Tatsache hinein, dass viele Veranstalter sofort gesagt haben: Ja, ihr müsst unbedingt in der ersten Saison zu uns kommen! Ich kann noch keinen einzigen Ton vorspielen, es gibt ja noch nichts – und trotzdem haben wir schon eine ganze Saison gebucht mit ziemlich vielen Konzerten. Es gibt viel Vertrauen und Vorschusslorbeeren in dieses Projekt, und das nehme ich schon als Wink des Schicksals, dass ich das wirklich ernst nehme und mich sehr stark darauf einlasse.